Rationalisierung reduziert die Wertschöpfung

Ein Vergleich landwirtschaftlicher Strukturen Nordostdeutschlands mit denen in Westdeutschland

Der Nordosten besteht aus den Bundesländern Berlin, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Mit der Bundeshauptstadt Berlin liegt in dieser Region Deutschlands größte Stadt und eines der wichtigsten Nachfragezentren für landwirtschaftliche Produkte.

Seit jeher war der Nordosten ein bedeutendes Agrarland. In der Magdeburger Börde liegen die fruchtbarsten Böden Deutschlands. Mit 3,9 Millionen ha verfügen die vier Bundesländer über 23 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche Deutschlands. Mit 1,4 Milliarden Euro erhielt der Nordosten 19 Prozent der für Deutschland ausgereichten EU-Agrarsubventionen. Allerdings wurden damit nur 13,9 Prozent der landwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung in Deutschland 2009 erzeugt.


Wenig Wertschöpfung

Mit 2,702 Mrd. Bruttowertschöpfung erzeugte die nordostdeutsche Landwirtschaft weniger als die des westlichen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Nordrhein-Westfalen hat bei weitem nicht so gute Böden. Über ein Drittel des Landes wird von Mittelgebirgen eingenommen, von denen eines nicht umsonst „Sauerland“ heißt. Seine landwirtschaftliche Nutzfläche ist mit 1,463 Mio. ha um mehr als die Hälfte kleiner, die EU-Subventionen fielen mit 623 Millionen Euro um mehr als die Hälfte niedriger als die nordostdeutschen aus, und dennoch wurde 2010 mit 2,739 Mrd Euro Bruttowertschöpfung (BWS) in der Landwirtschaft mehr erzeugt als im gesamten Nordosten.

Damit ist die Flächenproduktivität (BWS je ha) in Nordrhein-Westfalen mit 1.872 € 2,6mal größer als im Nordosten Deutschlands (700,50 €). Das nordostdeutsche Ergebnis wird dabei zu 53 Prozent von der EU subventioniert, das nordrhein-westfälische zu 22,7 Prozent. 20 Jahre nach der Wende ist diese Produktivitätsdifferenz erstaunlich.

Die Frage nach den Ursachen berührt mehrere Themenbereiche. Das Industrie­land Nordrhein-Westfalen weist mit 129.300 Erwerbstätigen in der Landwirtschaft (2010) ein Viertel aus wie die vier nordostdeutsche Bundesländer zusammen, die nur auf 99.000 kommen. Damit ist die Personalintensität pro 100 ha LNF mit 8,8 Personen mehr als dreimal höher als im Nordosten, der im Schnitt nur auf 2,6 kommt. Betriebe mit höherem Personalbesatz können sich viel besser um arbeitsintensive, aufwändige Kulturen kümmern und verfügen in der Regel über genügend Manpower, um sich bei kurz- und mittelfristigen Nachfrageänderungen auf neue Produkte umzustellen.


Wenig Groß gegen viel Klein

Eng verbunden mit diesem Faktor ist die Betriebsgröße. Im Durchschnitt bewirtschaftet ein nordostdeutscher Agrarbetrieb über 259 ha, ein nordrhein-westfälischer nur 41 ha. Anders ausgedrückt: Großbetriebe mit mehr als 200 ha verfügen in Nordostdeutschland über 88 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche, in Nordrhein-Westfalen über 7,4 Prozent.


Feudale Strukturen

Für Nordostdeutschland ergibt sich eine umgestülpte Pyramide der Besitzverteilung. Die wenigen Großbetriebe verfügen über die höchsten Flächenanteile. Die Besitzstruktur ähnelt also den Verhältnissen vor der Revolution von 1918. Man könnte sie somit als neofeudal bezeichnen.

Während in Nordostdeutschland die Klasse der Betriebe ab 1.000 ha den mit Abstand größten Teil einnahm, fiel die­se Rolle in Nordrhein-Westfalen der Größenklasse der 7.900 Betriebe mit 50 bis 100 ha zu. Sie nimmt 37,3 Prozent der Nutzflächen ein. In Nordostdeutschland kommt diese Klasse auf nur 2,6 Prozent. Entsprechend schwach ist in den vier nordöstlichen Bundesländern die gesunde Mittelschicht der landwirtschaftlichen Betriebe repräsentiert.

Dieser Befund hat vielfältige Konsequenzen für die ländliche Entwicklung: In Nordrhein-Westfalen sind etwa 35.800 Haushalte über landwirtschaftliche Vermögen an den Ländlichen Raum gebunden. In Nordostdeutschland sind es mit nur 14.900 auf einer mehr als doppelt so großen Fläche 41 Prozent weniger. Dieser Faktor hemmt die Abwanderung aus den ländlichen Räumen in Westdeutschland erheblich.

Während also in Nordrhein-Westfalen der weit überwiegende Teil der landwirtschaftlichen Erlöse über den Konsum der Haushalte in Handel und Dienstleistungen des Ländlichen Raumes fließt, landen in Nordostdeutschland über drei Viertel der Erlöse in Großbetrieben, deren Anteilseigner oder Gesellschafter oft gar nicht vor Ort leben oder so viel verdienen, dass der Handel im Ländlichen Raum die gewünschten Luxusproduktsegmente nicht führt.


Regionale Wertschöpfung im Westen

Die klein- und mittelbetriebliche Landwirtschaft im Westen trägt somit weit mehr zur Kapitalbildung im Ländlichen Raum bei als diejenige, die überwiegend in Großbetrieben organisiert ist.

Die Multiplikatorwirkung der landwirtschaftlich induzierten Einkommen in der regionalen Wirtschaft ist allein aufgrund der Unterschiede in der Besitzstruktur um das sechs- bis siebenfache höher einzuschätzen als in Nordostdeutschland.

Außerdem profitieren die Ländlichen Räume Nordrhein-Westfalens von den Effekten der Nebenerwerbsbetriebe. Kleinere Höfe verdienen nicht genug, um die benötigten Familieneinkommen zu gewährleisten. Sie sind daher gezwungen, sich in anderen Wirtschaftssektoren ein Zubrot zu verdienen. Das sind z.B. Tourismus („Ferien auf dem Bauernhof“), Veredlung und Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten in Hofläden, auf Bauernmärkten, Reiterhöfe oder Dienstleistungen für andere landwirtschaftliche Unternehmen. Das, was für die Landwirtschaft als Wirtschaftssektor oft nicht optimal ist, bringt aus regionalwirtschaftlicher Sicht eine enge Verflechtung der Landwirtschaft mit anderen Wirtschaftsbereichen und bedeutet daher ein weiteres Abwanderungshemmnis für die agrarische Bevölkerung.


Investionsmangel und Kapitalentzug

Die Einkommenskombination und einige andere Faktoren wiederum führen dazu, dass die relativ kleinen Betriebe in Nordrhein-Westfalen mit 663 Euro je ha fast doppelt so viel in ihre Landwirtschaft investieren wie die relativ großen Betriebe in Nordostdeutschland mit 335 Euro je ha – und das, obwohl die Großbetriebe in Nordostdeutschland durch vielfältige Fördermaßnahmen und Vorteile bei der Kreditaufnahme begünstigt sind. Diese Zahlen gelten für das Jahr 2008, da der Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen noch keine neueren Daten zur Verfügung stellt. Nach wie vor aber gilt: Trotz der starken Förderung leidet der nordostdeutsche Ländliche Raum unter starkem Investitionsmangel.

Die neufeudalen Besitzverhältnisse in Nordostdeutschland forcieren den Kapitalentzug aus Ländlichen Räumen nicht nur durch ihre Quantität. Auch die landwirtschaftlichen Konkurrenzverhältnisse werden negativ beeinflusst. Flexible kleine und mittlere Betriebe mit starker Marktorientierung werden durch inflexible Großbetriebe mit starker Subventionsorientierung verdrängt. Aufgrund ihrer Kapitalkraft können Großbetriebe oft höhere Pachten bezahlen als kleine und mittlere Familienbetriebe – zumindest so lange, bis die letzteren vom Markt verdrängt sind.

Dies hat zur Folge, dass die Flächenproduktivität in der nordostdeutschen Landwirtschaft weiter sinkt und dass noch weniger Erwerbstätige von der Landwirtschaft leben können.

Auch die neuen Bewirtschaftungsarten bevorzugen die Großbetriebe. Sie können die vor dem Hintergrund des Energiepflanzenbooms gestiegenen Pachten leichter bezahlen als beispielsweise mittlere Viehzuchtbetriebe. Außerdem sind sie in der Lage, aus eigener Kraft Biogasanlagen zu bauen. Kleinere Bauern müssen sich zum Bau von Biogasanlagen erst zusammenschließen, bevor sie genügend Grundkapital für solche Anlagen haben.


Zukunftprognose

Einige der genannten Verdrängungseffekte sind aus der Zeit des „echten“ Feudalismus im 19. Jahrhundert bekannt: Die ländliche Bevölkerung wurde durch die Expansion der Großbetriebe zur Abwanderung gezwungen. Ähnliches geschieht heute durch die Ausbreitung und Konsolidierung der neofeudalen Strukturen. Wenn in der Entwicklungspolitik der Landwirtschaft und Ländlicher Räume nicht umgesteuert wird, dann drohen einigen ländlichen Gebieten in Nordostdeutschland weitere Bevölkerungsverluste.

Im Umland von Berlin, entlang überregionaler Verkehrsachsen und in einem immer breiter werdenden Ostseeküstenstreifen wird die oben skizzierte Form der Landwirtschaft als führender Wirtschaftszweig zunehmend vom Tourismus abgelöst. Wenn die Regionalentwicklung diese Impulse positiv aufnehmen will, dann muss in den Entwicklungsplänen dieser Gebiete die Kompatibilität von Tourismus und Landwirtschaft gewährleistet werden. Das bedeutet, dass Art und Form der landwirtschaftlichen Produktion so zu gestalten sind, dass sie den Tourismus nicht behindern. Großviehanlagen, gentechnisch veränderter Pflanzenbau und andere agrarindustrielle Strukturen sollten also allein schon unter raumplanerischen Gesichtspunkten in solchen Gebieten keinesfalls zugelassen werden.

Auch landwirtschaftsintern gibt es Impulse, die in diese Richtung gehen. Im Land Brandenburg mehrt sich die Zahl der Betriebe, die sich verstärkt an der Nachfrage aus Berlin orientiert. Einige Umlandkreise von Berlin – allen voran der durch Gemüse- und Obstanbau geprägte Kreis Potsdam-Mittelmark – erreichen beim Personalbesatz je ha bereits westdeutsche Größenordnungen. 11,8 Prozent der Betriebe und 10,6 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Land Brandenburg werden bereits ökologisch bewirtschaftet. Mit 140.400 ha ist die ökologisch bewirtschaftete Fläche fast dreimal größer als in Nordrhein-Westfalen (54.800 ha). Allerdings reicht das noch lange nicht aus, um die Berliner Nachfrage nach Lebensmitteln aus ökologischem Anbau zu decken. Über die Hälfte des Berliner Verbrauchs muss aus Westdeutschland und anderen Regionen importiert werden.

13.09.2011
Von: Prof. Dr. Helmut Klüter, Institut für Geographie und Geologie Universität Greif