Die Häutung der Bio-Zwiebel

Am Ende sind alle gern bei den Gewinnern. Als der Kompromiss für eine neue EU-Bioverordnung im November 2017 Rat und Agrarausschuss des Parlaments passiert hatte, nannte es die EU-Kommission einen „Meilenstein für das Wachstum der Biobranche”. Der Agrarrat war zufrieden mit der qualifizierten Mehrheit, das Europäische Parlament war erleichtert über das Ende komplizierter Verhandlungen und der Dachverband der deutschen Bioverbände BÖLW – bis zuletzt erbitterter Gegner einer Revision der geltenden Verordnung – rühmte sich, der Verordnung die „Giftzähne gezogen” zu haben. Davor war fast vier Jahre lang rhetorisches und ideologisches Schlachtfeld. Der 2014 von der Kommission vorgelegte Gesetzentwurf wurde von der Biobranche als „realitätsferne und inakzeptable Zumutung für den Sektor” abgelehnt. Auch Agrarministerrat und Parlament bewerteten den ersten Gesetzentwurf als mangelhaft. Aber sie forderten in ihren Stellungnahmen keine Zurückweisung, sondern detaillierte Verbesserungen und suchten einen tragfähigen Kompromiss. Die Verhandlungen zwischen Kommission, Rat und Parlament dauerten drei Jahre, fünf Ratspräsidentschaften und achtzehn Triloge – aktueller Rekord in der Geschichte der EU-Agrargesetzgebung nach Inkrafttreten der Lissabonner Verträge. Die Totalopposition der politischen Spitze des deutschen Dachverbandes der Biobranche trägt hierfür maßgeblich Verantwortung. Zentrales Argument für die grundsätzliche Ablehnung blieb die von der Kommission ursprünglich vorgeschlagene Einführung von besonderen Grenzwerten für Pestizidrückstände in Biolebensmitteln. In den Pressemeldungen der deutschen Verbände blieb durchgehend unerwähnt, dass Grenzwerte für Pestizidrückstände in zahlreichen Mitgliedstaaten bereits gängige Praxis und in Deutschland als „Orientierungswerte“ längst in den branchenweiten Verträgen etabliert sind. Diese Ausblendung der Realität, gepaart mit der kategorischen Grenzwertablehnung, erschwerte eine Einigung im Rat erheblich. Bemerkenswerte Allianz Bemerkenswert war die Allianz des BÖLW mit dem Deutschen Bauernverband im Hinblick auf die „friedliche Koexistenz“ von biologischen und konventionellen Betrieben. Die gemeinsame strategische Linie, die Verordnung zu Fall zu bringen, der gemeinsame Druck auf das Bundesministerium BMEL, auf Kommission, Parlament und Rat und gemeinsam organsierte Lobbygespräche bei Ratspräsidentschaften wurden in Brüssel anfangs mit Erstaunen, später mit Verärgerung aufgenommen. Mehrfach sah es so aus, als ob diese gesamtdeutsche Allianz die Verordnung tatsächlich vor die Wand fahren würde. Rhetorisch wurden von den Verbänden und ihren juristischen Beiständen in den drei Jahren alle Register gezogen. Die Kommission führe „Krieg gegen die Biobauern”, eine neue Verordnung sei „das Ende der friedlichen Koexistenz“ mit konventionellen Berufskollegen und das Ende der Entwicklung des Biosektors schlechthin. Mühsam ausgehandelte Verbesserungen bei der Verteidigung der Prozesskontrolle, die Harmonisierung der Standards bei Importen, der Ausstieg aus zahlreichen Ausnahmeregelungen, die Verbesserung vieler Produktionsregeln, die Festlegung des Prinzips der bodengebundenen Erzeugung und die Förderung des ökologischen Saatguts gingen im Ablehnungsgetümmel unter oder blieben absichtlich unerwähnt.
Befremden Ein für die Betreuung der Triloge zuständiger Beamter des Parlaments bemerkte am Ende der Verhandlungen, die deutsche Biolobby sei bisweilen aggressiver und arroganter aufgetreten als die deutsche Automobilindustrie. Man habe offenbar verwechselt, wer Gesetzgeber und wer Interessenvertreter sei. Auch bei der Kommission wurden die zahlreichen Angriffe und zum Teil persönlichen Herabsetzungen mit Befremden zur Kenntnis genommen. Die Bioszene habe zwar große Verdienste bei der Entwicklung des Sektors erworben, könne aber nicht für sich in Anspruch nehmen, auch gleichzeitig die Gesetze im eigenen Interesse zu schreiben. Die erzielten rapide wachsenden Margen am Biomarkt zögen eben auch Begehrlichkeiten und Betrug an, denen vorgebeugt werden müsse, nicht zuletzt im Sinne konsequenten Verbraucherschutzes, so die Haltung in der Kommission. Das Thema Koexistenz wurde von den Verbänden darauf zugespitzt, dass auf die Biobauern bei Überschreiten von Grenzwerten Kosten für die Dezertifizierung und erneute Zertifizierung zukommen würden, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass die meisten Kontaminierungen in Mitgliedstaaten mit Grenzwerten gar nicht auf den Höfen, sondern bei Transport, Verarbeitung und im Handel auftreten. Wirtschaftlicher Schaden gerade auch für Bauern in Deutschland tritt dadurch auf, dass Handels- und Verarbeitungsunternehmen in den Verträgen eigene Grenzwerte etabliert haben, z. B. wird der sogenannte „BNN-Orientierungswert“ von vielen Marktakteuren als Grenzwert in den Handelsverträgen festgelegt. Der Schaden entsteht heute schon regelmäßig und in erheblichem Umfang dadurch, dass die Ware zwar rechtlich weiter Bio ist, jedoch nicht mehr vermarktet werden kann. German Arrogance Auch war für Unterhändler in Brüssel nicht nachvollziehbar, warum die Verbände wichtige Verbesserungen so strikt ablehnten, wie die Harmonisierung auf einen EU-Standard bei Importware aus Drittstaaten und das Auslaufen zahlreicher Ausnahmeregelungen, die konventionelle Praktiken und Material erlauben. Dabei ist es auch für die heimischen Biobauern bedeutsam, unter welchen Bedingungen und damit Kosten Importgetreide, -soja und -obst hergestellt werden. Widerstand gegen die vom Parlament vorgeschlagenen Stallbegrenzungen bei Biohennen kam ebenfalls aus Deutschland. Später wurde dann kritisiert, die neue EU-Ökoverordnung schreibe den Mitgliedstaaten vor, das Verbot des Schnabelkürzens bei Biohennen aufzuheben, was objektiv falsch ist. Ein Verbot bleibt in Deutschland durch die zulässige nationale Gesetzgebung bestehen. Viele Mitgliedstaaten und auch viele Abgeordnete des Parlaments sahen in der Ablehnung der Harmonisierungsvorschläge spezifische deutsche Interessen, die den zum Teil völlig unterschiedlichen Bedingungen in den Mitgliedstaaten keine Beachtung schenkten. Die „German Angst" vor der Verordnung wurde wie so oft auch als die „German Arrogance" gegenüber den Interessen der europäischen Partner wahrgenommen. Viele Schichten Erfolgreiche internationale Verhandlungen verlaufen in der Regel ähnlich der Häutung einer Zwiebel. Die äußere Schale ist die Position, die zu Beginn der Verhandlungen eingenommen wird. Sie ist hart und ziemlich undurchdringlich. Dahinter liegt die zweite Schicht, die in der Regel erst zum Vorschein kommt, wenn der Druck zur Kompromissfindung steigt. In dieser Schicht liegen die Interessen verborgen, die meist nicht ohne Not preisgegeben werden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Startposition der Verhandler schon einen Kompromiss unterschiedlichster Interessen darstellt, wie dies in allen drei gesetzgebenden Institutionen der Fall ist. In Verhandlungen hinter diese dicke Haut der Interessen und Interessenkonflikte vorzudringen ist deshalb noch schwieriger. Dies wird erst dann möglich, wenn die Verhandlungspartner ein Grundvertrauen zueinander entwickelt haben, so dass sie an einer Lösung auch gemeinsam arbeiten können. Und damit dies überhaupt möglich wird, müssen weitere dünnhäutige Schichten wie kulturelle, institutionelle oder persönliche Ambitionen und Bedürfnisse aller Beteiligten erkannt und berücksichtigt werden. Soweit waren die Verhandlungspartner bei der Bio-Zwiebel wegen des ständigen Störfeuers aus Deutschland gar nicht gekommen. Dass es trotzdem zu einer Einigung in Brüssel gekommen ist, gegen die deutsche Verbändeallianz und die von ihnen unter Druck gesetzte Bundesregierung, hat viel damit zu tun, dass sich die anderen europäischen Akteure auf die erheblichen Verbesserungen gegenüber der alten Ökoverordnung konzentriert und Allianzen ohne das Berliner Ministerium gebildet haben. Nach drei Jahren Verhandlungen sind die unterschiedlichen nationalen und sektoralen Interessen und Allianzen nun für alle Seiten deutlich erkennbar. Eine neue Phase der Ausformulierung der Kompromisse in Einzelbestimmungen hat im Januar begonnen. Zahlreiche delegierte Rechtsakte für die Umsetzung der geeinten neuen Ökoregeln stehen noch aus. Parlament, Rat und Kommission haben konstruktive und zügige Zusammenarbeit vereinbart. Mit einer endgültigen Annahme der Vereinbarungen im Plenum des Europäischen Parlaments wird gerechnet. In Kraft treten werden die neuen Regeln dann zum Januar 2021. Pionierrolle Bis dahin wäre eine konstruktive Zuarbeit der Verbände notwendig, um allen Betroffenen die notwendigen Anpassungen zu erleichtern und verbliebene Unklarheiten zu beseitigen. Noch wichtiger aber scheint die Klärung der Frage zu sein, wohin sich die Biobranche eigentlich in Zukunft entwickeln will. Die – zum Teil verborgenen – Interessen der unterschiedlichen Akteure, die im deutschen Dachverband gebündelt sind, liegen vielleicht nicht mehr ganz so hautnah beisammen, wie es in der radikalen Ablehnung der Verordnung erschien. Und im Hinblick auf die beginnende Debatte zur Reform der Agrarpolitik sollten die Bio-Interessenvertreter ehrlich prüfen, welche politischen und strategischen Allianzen den Durchbruch zur überfälligen Agrarwende möglich machen. Es geht um nicht weniger als eine Ökologisierung der gesamten Landwirtschaft in Europa und den sozialen Zusammenhalt zwischen Menschen in Stadt und Land. Die Biobewegung hatte lange eine Pionierrolle. So sollte es auch bleiben.
07.02.2018
Von: Hannes Lorenzen, Arc 2020

Agrarwende geht nur gemeinsam! Foto: Ganschow/Die Auslöser