Heimat – Berlin – Heimat

Es war ein wunderschöner Morgen. Das bemerkte ich jetzt, als ich auf dem Berg stand. Eigentlich war ich gerade dabei, die Kühe zum Melken heimzuholen. Aber nun hielt ich inne und musste erst mal gucken. Das fiel mir nicht leicht; denn ich kriegte die Augen nicht so richtig auf. Es war der 2. August 2016. Der Morgen unserer Silberhochzeit. Die Liebste und ich, wir waren tatsächlich schon 25 Jahre lang verheiratet. Am Abend zuvor waren einige Freunde vorbeigekommen, um vor unserer Haustür eine Girlande aufzuhängen. Wir hatten noch etwas zusammen getrunken. Es war spät geworden, spät und glücklich, als Birte und ich ins Bett hüpften. Jetzt war die kurze Nacht vorbei; eigentlich hätte ich schon längst im Melkstand stehen wollen. Aber ich stand auf dem Berg und guckte. Zuerst mit äußerst kleinen Augen, aber nun wurden sie größer und größer. Ich konnte mich gar nicht satt sehen. Vor mir lag meine Heimat, ausgebreitet in all ihrer verschwenderischen Pracht, prall, grün, in voller Blüte. Auf der Weide mit der großen Hainbuche lagen meine Kühe träge in der Morgensonne. Wie zufällig dahingepurzelt hatten sie sich im Gras verteilt. Mit schwarzglänzenden Blicken, die ich als „Uns geht alles am Arsch vorbei“ deutete, schauten sie sich ihr eigenes Idyll an und käuten wieder, als gäbe es nichts Wichtigeres auf dieser Welt. Über dem Moor tief unter uns hing eine dünne Schicht Nebel, die langsam sich auflösend höher stieg. Schon konnte ich schemenhaft einige Umrisse meiner dort grasenden Jungtiere erkennen. Ich wusste, es ging ihnen gut. Für Jungrinder gibt es nichts Besseres als den Sommer. Gras und Gras und Gras und keinen, der was von einem will. In mir stieg ein seltenes Glücksgefühl hoch, und ich spürte, dass dies hier mein Platz war, mein Platz auf dieser Welt. Hier und nirgends anders gehörte ich hin. Hier wollte ich meine Arbeit tun; hier wollte ich ein guter Mensch sein. Wie „Gutmensch“ zu einem Schimpfwort hatte werden können, habe ich nie verstanden. Gibt es denn Leute, die schlechte Menschen sein wollen? Die es gut finden, schlecht zu sein? Ich riss mich aus diesen Gedanken. Ein letztes Mal guckte ich, nahm dieses Bild des Glücks in mich auf, dann schritt ich zwischen meine Kühe und trieb sie hoch. Schließlich waren wir nicht zum Spaß hier. Jedenfalls nicht nur. Leise seufzend standen die Kühe auf, um – als Zeichen leisen Protests oder einfach nur so – erst mal zu scheißen. Sie und ich, wir mussten Milch liefern. Ich hoffe und glaube, dass sie das gerne tun. Ich weiß, dass ich es gerne tu. Was hat das nun alles mit der Demo in Berlin zu tun? Warum da hinfahren und für bäuerliche Landwirtschaft demonstrieren? Reicht es nicht aus, da zu sein, wo man hingehört und das zu tun, was man für gut und richtig hält? Was für ein Stress, die Arbeit auf dem Hof zu organisieren, den Trecker sauber zu machen – manche sagen, das kann man sich auch sparen – Sprit zu verfahren, nach zwölf Stunden auf dem Fahrersitz einen steifen Nacken zu kriegen … wofür das Ganze? Jedes Mal, wenn ich zurück bin, fragt Mudder mich: Und wat hett di dat nu bröcht? Mudder, sage ich dann, es hat etwas gebracht. Es ist wichtig, dort zu sein und zu zeigen, dass vor allem auch wir Bauern eine andere Landwirtschaft wollen. Unsere Kühe können nicht selbst nach Berlin fahren und sagen, dass sie auch in Zukunft im Licht des frühen Morgens auf der Weide liegen und wiederkäuen wollen, bis der Bauer kommt. Und sie können nicht sagen, dass sie Weidegang haben wollen statt ganzjähriger Stallhaltung mit Essen auf Rädern, jeden Tag den gleichen Scheiß, vom Futtermischwagen zum immer gleichen Eintopf gerührt. Was die Kühe wollen, das zeigen sie mir, dem Bauern, wenn sie im Frühjahr ausflippen vor Freude, wenn sie endlich wieder raus können nach einem langen Winter. Und meine Aufgabe ist es, dass sie kriegen, was sie wollen. Weil es auch das ist, was ich will: Kühe auf der Weide, im Sommer, auf unserem Berg, unter der Hainbuche. Nebenbei gesagt: Es macht sogar Spaß, nach Berlin zu fahren. Allein schon die Ankunft in Blankenfelde, jedes Mal wieder ein Erlebnis. All diese Bauern dort mit ihren Treckern, den leuchtenden Augen in den glücklichen Gesichtern. Vor Ort, im Dorf, weiß ich ja manchmal gar nicht, ob ich nicht vielleicht doch ganz allein bin mit meiner Meinung. Und dann komme ich in diesen Raum voller Bäuerinnen und Bauern, die auf ihren Höfen, in ihren Dörfern genau das tun, was ich auch mache auf meinem Hof, in meinem Dorf. Wir sind gar nicht so wenige, wie es manchmal den Anschein hat. Es gibt uns überall. Noch. Und wenn wir dann mit den Treckern durch das Spalier der jubelnden Demoleute fahren, gibt das Kraft für ein ganzes neues Jahr. Auf dass wir auch im Jahr darauf wieder dabei sein können, in Blankenfelde und in Berlin. Und, ach ja: Es ist wundervoll, nach einem Wochenende auf Achse wieder nach Hause zu kommen. Allein der Geruch auf dem Hof! Ehrlich mal: Wie geil ist das denn?
10.01.2017
Von: Matthias Stührwoldt, Milchbauer

Matthias Stührwoldt unterwegs